Ein fast schmerzhaftes Lesevergnügen
Oft geht es mir mit besonderen Büchern so: Sie kreuzen innerhalb kurzer Zeit mehrmals unverhofft meinen Weg und raunen mir zu: Lies mich! Sofort!
So auch geschehen mit dem Buch „Der Salzpfad“. Gleich zweimal an einem Tag nahm ich das Buch wahr und stellte dann noch fest, dass die Verfilmung aktuell in den Kinos lief. Also holte ich mir das Buch in der Bücherei und war von Seite 1 bis Seite 412 fasziniert und gefesselt von diesem außergewöhnlichen Reisebericht.
Worum geht es in „Der Salzpfad“:
Das Ehepaar Raynor und Moth lebt auf einer Farm in Wales. Durch eine Fehlinvestition und einen Gerichtsprozess verlieren sie ihr Haus mit beinahe allem Hab und Gut. Sie werden von einem Tag auf den anderen obdachlos und mittellos.
Moth, der Ehemann, leidet zudem an einer schweren Nervenkrankheit (CBD = kortikobalsale Degeneration), die ihm nicht nur Schmerzen bereitet, sondern ihn von Tag zu Tag mehr verfallen lässt. Die Aussichten sind also alles andere als rosig.
So treffen sie im Jahr 2013 den Entschluss, trotz aller erwartbaren Widrigkeiten, den längsten und bekanntesten Küstenwanderweg Englands zu wandern: den South West Coast Path, mit einer Länge von 1014 Kilometern und 35.000 Höhenmetern.
Sie nehmen das mit, was in zwei Rucksäcke passt und zelten jede Nacht wild – immer dort, wo sie gerade sind. Das einzige Einkommen, das sie haben, sind 48 britische Pfund (aktuell ca. 55 Euro) pro Woche in Form einer Steuergutschrift für Menschen mit geringem Einkommen. Das muss reichen für Nahrungsmittel, Medikamente, Handy und weitere, auch unvorhergesehene, Ausgaben.
Mit einem Minimum an materiellem Ballast, doch mit jeder Menge Sorgen starten sie in Minehead ihre Wanderung mit dem vorläufigen Ziel Land’s End, ganz im Süden der Insel. Allen, die sie fragen, sagen sie: Wenn es klappt, gehen wir die ganze Strecke bis Poole.
Die beiden sind über 50, außer Form und darüber hinaus ist Moths Beweglichkeit wegen der Krankheit sehr eingeschränkt. Jeder Tag ist schmerzhafter als der vorherige. Ihre Chancen, ihr Ziel zu erreichen, stehen also schlecht, doch sie nutzen sie. Nicht zuletzt, weil sie sich vom starken Band ihrer seit Jugendtagen haltenden Liebe zueinander getragen fühlen.
Der Wanderweg ist mühsam, es geht über unzählige Treppen nach oben und über schmale Pfade, manchmal nur 30 cm breit, nach unten. Das Wetter ist unberechenbar, besonders die Hitze in jenem trockenen Sommer macht ihnen zu schaffen.
Die Menschen, die ihnen begegnen, sind freundlich und hilfsbereit, aber nur, solange sie nicht realisieren, dass sie mit Obdachlosen reden, die ihr Haus verloren haben. Diese ehrliche Selbstbeschreibung bringt jedes Gespräch ins Stocken und jede neue Bekanntschaft jäh zum Abbruch. Menschen wenden sich schaudernd ab. Ihre Reaktion ist selbst beim Lesen beschämend.
Also erzählen Raynor und Moth irgendwann lieber, dass sie ihr Haus verkauft hätten und jetzt in den Tag hinein leben. Das macht sie weniger verdächtig. Im Gegenteil: Das inspiriert die meisten Menschen.
Denn, so schreibt Raynor, in der Öffentlichkeit wird Obdachlosigkeit automatisch mit Alkohol- und Drogenabhängigkeit in Verbindung gebracht und ruft Ängste hervor.
Beim Lesen wird deutlich, wie wir mit Wohnungslosen umgehen: Obdachlose sind wie Aussätzige, mit ihnen will man nichts zu tun haben. Wer obdachlos ist, ist nicht nützlich für die Welt.
Welche Art Buch ist „Der Salzpfad“?
Das Buch ist ein Reisebericht, besser: ein Selbsterfahrungsbericht. Denn was diese beiden erleben, geht weit über eine normale Reise hinaus.
Wir erfahren nicht viel über die tiefen Abgründe, die in dem sympathischen Paar ganz sicher lauern. Wir wissen nicht, welche Dämonen sie mit sich herumtragen und welchen psychischen Stress sie im Leben bereits aushalten mussten.
Dennoch erzählt Raynor offen von ihren intensiven Gefühlen, die geprägt sind von Scham – gegenüber ihren Kindern, der Gesellschaft, einander. Auch Raum zur Reflexion nehmen sich Raynor und Moth, vor allem gegen Ende des Weges.
- Wir gehen den Salzpfad mit den beiden, spüren die heiße Sonne auf der Haut (und den Sonnenbrand), hungern mit ihnen und sind glückselig wie sie, wenn der Geldautomat Geld ausspuckt, sie jemand zum Essen einlädt oder sie dank eines spontanen literarischen Vortrags auf der Straße einen Hut voll Kleingeld sammeln können.
- Wir erleben, wie sich Moths Gesundheit mit der Zeit verbessert und er neue Kraft verspürt – ganz anders als alles, was ihm von medizinischer Seite prophezeit wurde.
- Und wir amüsieren uns über ein Verwechslungsspiel, das sich erst spät aufklärt und das die Reise zu etwas Besonderem macht.
Der Kern des Buches: Freiheit kostet kein Geld
Wir alle haben irgendwann im Leben Geldsorgen. Wir haben Angst, dass wir unseren Lebensstandard aufgeben müssen oder Vermögen verlieren.
Doch das, was die Eheleute Winn erleben, können nur wenige Menschen aus eigener Erfahrung nachvollziehen:
Dass die absoluten Grundbedürfnisse wie Nahrung, Gesundheit und ein Dach über dem Kopf nicht täglich und nicht nachhaltig erfüllt sind.
Und dennoch überleben sie die Strapazen und starten jeden Morgen neu ins Abenteuer Leben. Dabei erfahren sie buchstäblich am eigenen Leib, worum es im Leben wirklich geht und wie unfrei es sich anfühlen kann, von vier Wänden und einem Dach umschlossen zu sein.
Für wen ist „Der Salzpfad“?
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für Englandfans und Reisefans ganz allgemein
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für passionierte Wanderer und Wanderinnen
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für abenteuerlustige Menschen
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für Menschen, die aus den Erlebnissen von anderen lernen wollen, um sich Schritt für Schritt vorwärtszubewegen
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für alle, die hin und wieder Angst haben, etwas zu verlieren
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für alle, die ihr Verhältnis zu Geld und Besitz auf eine gesündere Ebene bringen wollen
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für alle, die die Verantwortung für ihre Gesundheit gerne selbst übernehmen (wollen)
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für alle, die gerne zu Hause sind und in Gedanken reisen wollen
Kontroverse: Betrugsvorwurf gegen die Autorin von „Der Salzpfad“ im Sommer 2025
Kaum hatte ich das Buch gelesen, erfuhr ich unter anderem hier, dass die britische Zeitung „Observer“ herausgefunden haben will, dass wesentliche Teile der Geschichte erfunden seien bzw. nicht stimmten: Die Umstände des Verlustes des Hauses, die Krankheit von Moth und sogar die Namen der Hauptpersonen seien bewusst falsch angegeben. Die Autorin äußert sich zu den Vorwürfen auf ihre Website (in Englisch).
Auf meine Bewertung des Buches und die Einordnung der Geschichte hat der Vorwurf keinen Einfluss.