Warum „spitz aufstellen“, „Finde deine Nische“ und „Sei eine Expertin“ Alpträume auslösen können
Dieser Text ist besonders für alle Scanner-Persönlichkeiten, Vielbegabten und Multi-Talentierten. Ihr und auch alle anderen erfahrt, welche Nachteile es hat, wenn ihr euch nicht spitz positioniert. Plus: Ihr lest, warum es viele Vorteile hat, es dennoch nicht zu tun. Und ich verrate, wie ihr den roten Faden in eurem Leben ganz einfach erkennt.
Bitte teilt eure persönlichen Erfahrungen gerne.
Es war im Jahr 2008. Draußen war es definitiv heiß. Denn ich lebte zu jener Zeit in Dubai. Ich saß im heruntergekühlten Büro am Schreibtisch, als eine Anzeige über meinen Bildschirm schwirrte. Mit einem Klick war sie weg, obwohl ich die Überschrift wahrnahm und innerlich abspeicherte. Wie sie genau lautete, weiß ich nicht mehr. Aber: Ich erinnerte mich ein paar Tage später wieder daran und machte mich auf die Suche nach der Anzeige. Denn: Sie ließ mir keine Ruhe.
Was ich wusste: Es ging um ein Buch. Und es handelte von mir! Nicht direkt – aber von all den Erfahrungen, die ich in meinen rund 30 Lenzen bis dato gemacht hatte.
Es dauerte ein paar Tage, bis ich das Buch fand. Es war: „Du musst dich nicht entscheiden, wenn du tausend Träume hast“ von Barbara Sher. Schon beim Lesen des Klappentextes fiel eine tonnenschwere Last von meinen Schultern. Tief in mir wuchs endlich die Erkenntnis: Ich bin nicht falsch. Ich bin genau richtig, so wie ich bin.
Das Buch zu lesen dauerte bei weitem nicht so lange wie die Suche danach! Endlich sagte es jemand und schrieb es sogar auf: sich für viele Themen zu interessieren, immer wieder Neues zu brauchen, in der Lage zu sein, ganz unterschiedliche Aufgaben zu bewältigen und die Welt aus einer anderen Perspektive zu sehen als viele andere ist nichts Schlechtes.
Es ist für viele, so wie für mich, ganz normal! Barbara Sher nennt Menschen wie uns Scanner-Persönlichkeiten (oder einfach Scanner).
Im Laufe der Jahre habe ich mich mit meiner Vielseitigkeit angefreundet, auch wenn es nicht immer leicht ist, diese auch auszuleben – besonders beruflich. Obwohl Barbara Sher im Buch einige Vorschläge macht, ist es doch in einem Angestelltenverhältnis nicht immer ganz einfach als Tausendsassa. Die meisten Unternehmen sind darauf nicht ausgelegt – leider.
Egal, ich bereitete zur damaligen Zeit meine erste Unternehmensgründung vor und die Phase meines Lebens, die damit begann, fühlte sich lange Zeit toll an. Abgesehen davon, dass es finanziell streckenweise wirklich schwierig war, genoss ich es immens, dass mein Arbeitsalltag so abwechslungsreich war.
Als Solo-Selbstständige machst du vieles selbst, was in Unternehmen mehrere Abteilungen stemmen: Akquise, Vertrieb, Marketing, Buchhaltung, Steuern, Recherche, Kundenbetreuung, Produktentwicklung, IT-Admin, Website programmieren und designen und vieles mehr. Nicht zu vergessen: die operative Arbeit. Kurzum: Ein Paradies für Scanner. Was mir besonders gefällt: das konzeptionelle Arbeiten und die Zeitautonomie.
Der Schatten der Selbstständigkeit: die Nische
Schon in Dubai hatte ich meine Gründung vorbereitet und mit einem Coach meine Strategie festgelegt und meinen Businessplan geschrieben. Und da fiel es das erste Mal, das „böse“ Wort: Nische! Es ging schon in der allerersten Version meines Business Planes darum, die Zielgruppe möglichst eng zu definieren und eine möglichst konkrete Lösung für ein klares Problem anzubieten.
Ich tat, wie mir geraten wurde, baute alles rund um diese Strategie auf – und scheiterte grandios. Das Pilotprojekt lief zwar nach Plan, machte mir aber null Freude. Ich hatte mich in eine Rolle gezwängt, die mir zu eng war. In meinem Buch schreibe ich dazu: „Ich bin vieles, aber keine Auditorin!“
So verwarf ich diese Strategie zügig und damit alles, was ich an Arbeit und Geld darin investiert hatte. Ich suchte mir einen spannenden Teilzeit-Job und arbeitete im Rest der Woche als selbstständige Texterin. Denn Schreiben, das kann ich schon immer sehr gut. Und das macht mir immer Freude!
Ganz meinem Wesen entsprechend, blieb es nicht dabei. Ich trainierte, coachte, beriet und entwickelte Produkte. Und ich gründete noch zwei weitere Unternehmen, probierte diverse Strategien und Taktiken aus und genoss den Weg ungemein. Aber der sogenannte „Erfolg“, wie er landläufig definiert wird, wollte sich nicht nachhaltig einstellen. Zumindest nicht im Außen.
Rückblickend ist mir sehr klar, warum ich mich immer so unverstanden fühlte (und noch fühle). Bei jeder Neugründung, und ja, ich muss es sagen, mit jedem Coaching und jedem Programm, das ich dafür machte, kam das Thema wieder auf:
„Du musst dich spitz aufstellen! Nur dann wirst du die passenden Menschen anziehen, die bei dir kaufen. Die Welt will Experten. Finde deine Nische!“
Wie sage ich es am besten? Intellektuell fand ich das alles absolut nachvollziehbar. Mir gefielen, ja mich faszinierten Strategien wie die EKS (Engpasskonzentrierte Strategie) oder die Neurostrategie. Es interessierte mich, sie anzuwenden und ich sog all die spannenden Informationen dankbar auf, ganz nach Scanner-Art. Und ja: Ich gab mein Bestes, um es immer wieder zu probieren: eine Nische zu finden. Und ich fand sie immer wieder.
Das Problem: Ich fühlte mich in keiner der Nischen wohl. Sie waren am Anfang ganz nett, als sie noch neu waren. Aber je länger ich mich in ihnen bewegte, desto unbequemer wurden sie. Ich liebäugelte mit anderen Strategien, las weitere Bücher und „ging fremd“. Irgendwann wich ich wieder ab von der Norm und tat lieber, was mir Freude machte.
Einige Jahre ging es hin und her, ohne dass es scheinbar zu etwas führte. Erst im Jahr 2020 sollte ich kapieren, was das Ziel war: mich selbst zu finden und meine Verwandlung zum Schmetterling zu vollenden. Wie das vonstattenging, das sprengt den Rahmen. Wenn es dich interessiert, kannst du es in meinem Buch „Schmetterlinge fallen nicht vom Himmel“ nachlesen.
Jedenfalls hat es noch weitere 4 Jahre (und noch 2 Master-Programme) gebraucht, bis ich es einfach habe sein lassen.
Ich habe endlich beschlossen, meinen Frieden mit meiner „Ausstattung“ zu machen und zu akzeptieren, dass ich die Nische bin. Ich bin einzigartig und aus einem bestimmten Grund so, wie ich bin. Weil die Welt mich so braucht.
Und heute? Heute habe ich wieder eine Doppelrolle (besser Mehrfachrolle), d. h. ich bin zeitweise angestellt und ich bin „nebenbei“ Chefredakteurin, Herausgeberin, Autorin, Kolumnistin, Unternehmerin, Botschafterin, Futuristin, Brückenbauerin, Philosophin, Sängerin, Rednerin, Feministin. Zumindest steht es so in meinem LinkedIn-Profil (ich habe extra nachgeschaut).
Was soll ich sagen? Es fühlt sich einfach wie ich an, auch wenn die Kommunikation nach außen nach wie vor schwierig ist.

Welche Nachteile hat es, dass ich mich nicht spitz positioniere?
- Ich passe in kein Raster! Online-Plattformen, Bewerbungssysteme, Fragebögen aller Art: Sie lassen buchstäblich keinen Platz für Multi-Interessierte und Mehrfach-Tätige. Es gibt in der Regel nur ein Feld für „Beruf“.
- Weil ich in kein Raster passe und zudem nicht die gängigen Keywords liefern kann, finden mich Algorithmen, Suchmaschinen und Künstliche Intelligenzen nicht oder nur schwer.
- Wenn ich mich mit meinem kompletten Lebenslauf bewerbe (der neben Branchen-Hopping, verschiedenen Berufen und Auslandsaufenthalten auch Lücken enthält), sind die meisten Recruiterinnen überfordert. Das Positive: Wenn sie sich trauen, mich persönlich kennenlernen, stellen sie mich in der Regel ein.
- Skalieren ist schwierig oder unmöglich: Als ich noch im Projektgeschäft tätig war, spürte ich es besonders: Es kostet zu viel Zeit, jeden Workshop individuell zu gestalten und die Zeit dafür konnte ich nur bedingt in Rechnung stellen.
- Mich vorzustellen, ob persönlich oder schriftlich, geht nicht per copy & paste. Ich passe meinen „Pitch“ jedes mal ans Publikum und an den Kontext an und lasse vieles weg. Auf die Frage: Was machst du?, kann ich ergo nicht immer eloquent antworten.
- Menschen, die mich nicht kennen, tun sich schwer, mich weiterzuempfehlen. Sie verstehen oft nicht einmal, was ich tue.
- Da ich keine Expertin bin, ignorieren mich viele Publikationen, Pressestellen, Agenturen, Veranstalter, Podcast-Hosts etc. Denn auch diese suchen nach konkreten Keywords und wollen meist jemanden, der/die einen klaren Expertinnenstatus hat. Damit kann und will ich nicht dienen.
Die Vorteile meiner Entscheidung, keine Expertin zu sein, liegen auf der Hand
Mir geht es besser, je weniger ich mich in eine Schablone pressen muss. Ich fühle mich erfüllt bei allem, was ich tue, auch wenn es nicht „spitz“ ist.
Mein roter Faden ist bunt, weil ich mich für viele Themen interessiere. Beim Schreiben kann ich all diese Themen besonders gut kennenlernen. Denn vor dem Schreiben steht die Recherche.
Was ich schon alles geschrieben habe! Von A wie Anzeigen über P wie Presseartikel bis Z wie Zeugnisse war (fast) alles dabei. Ich schreibe Werbe-, Produkt-, Webseitentexte. Ich schreibe Blogartikel, Zeitungsartikel, Porträts, Broschüren, Kolumnen und Songtexte. Ich habe unzählige Protokolle, vertrauliche Berichte und sogar Handbücher geschrieben. Ich habe ein Buch geschrieben und veröffentlicht und rein mengenmäßig bestimmt noch 10 weitere.
Das ist eine unglaubliche Bandbreite, und das kommt mir entgegen. Niemals könnte ich mich als Texterin für nur eine Textart oder eine Branche positionieren. Ich würde immer die anderen vermissen. Man verlangt ja von Eltern auch nicht, sich für eines ihrer Kinder zu entscheiden, gell?
Neben dem Texten mache ich auch andere Dinge gerne: konzeptionieren, strukturieren, designen, Prozesse etablieren und verbessern. Übergreifend kann ich sagen: Relevante Themen optimal zu kommunizieren, auch gesprochen, ist mir ein tiefes, inneres Anliegen.

Ist Schreiben also meine Lebensaufgaben? Nein!
Schreiben, der Umgang mit Worten und übergreifend die Kommunikation ist eine meiner Gaben, eine Superkraft. Sie nützt mir dabei, meine Lebensaufgabe (manche sagen Zweck der Existenz, Purpose, Bestimmung etc.) zu erfüllen.
Meine Lebensaufgabe selbst klingt nicht besonders spektakulär. Sie ist recht allgemein und übergreifend. Sie lautet:
Brücken bauen – zu scheinbar unerreichbaren Orten
Diese Aufgabe erfülle ich immer mühelos, ob im Job, in der Familie, im Ehrenamt oder in der Freizeit. Sie steht in keiner Stellenbeschreibung oder Anzeige, und trotzdem wird sie überall gebraucht.
Das Wundervolle: Ich habe alles mitbekommen, um sie zu erfüllen – vom, zugegeben spektakulären Start ins Leben (mehr dazu in meinem Buch). Keine Ausbildung, kein Studium und schon gar kein Master-Programm sind dazu nötig. Ich habe die Aufgabe mit all den Superkräften in die Wiege gelegt bekommen. Du übrigens auch – also deine Aufgabe mit deinen Superkräften.
Und jetzt hast du ihn: deinen roten Faden!
Deine Lebensaufgabe ist es, an der du dich todsicher orientieren kannst, wenn du deinen roten oder bunten Faden suchst. Die Lebensaufgabe ist mehr als eine Mission, sie ist das, wofür du auf der Welt bist.
Erfüllst du sie, erfüllt sie dich! So einfach kann das Leben sein.
Wenn sich dir deine Lebensaufgabe noch nicht gezeigt hat, dann stöbere für Inspiration und Bestärkung in meinem Magazin und hol dir meine Weg-Weiser.
Sei dir sicher, dass du deine Lebensaufgabe bereits erfüllst, auch wenn dir das vielleicht nicht bewusst ist.
Deine Gabriele
Und jetzt zu dir:
Welche Erfahrungen hast du gemacht mit deiner Vielseitigkeit und Vielbegabung?
Und welche Vor- und Nachteile siehst du in deiner Scanner-Persönlichkeit?
Erfüllst du schon deine Lebensaufgabe?
Erzähle es uns gerne in den Kommentaren!